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Das Erdbeben vom 17. November 1911 in Südbaden


Freiburger Zeitung, 17. November 1911 (1. Morgenausgabe)
Erdbeben
Eine Schreckensnacht liegt hinter uns. Ein Erdbeben, wie es hier seit Menschengedenken nicht erlebt wurde, rief gestern abend kurz vor 1/2 11 Uhr in der Bevölkerung ungeheure Bestürzung hervor und füllte im Augenblick die Straßen.
Die Erschütterung, ein Nachbeben von ungewöhnlicher Heftigkeit, trat, von gewaltigem donnerähnlichen unterirdischen Getöse begleitet, 10 Uhr 20 Minuten ein und währte 8 - 10 Sekunden. Man konnte drei Stöße unterscheiden, deren zweiter wohl der heftigste war und die Häuser im Fundament bis unters Dach erschütterte. Überall fühlte man den Boden unter sich wanken - in den Wohnungen, in den Wirtshäusern, Cafés und auf der Straße. Im Nu flogen die Fenster auf und tödliche erschrocken erschienen die schon zur Ruhe gegangenen am Fenster, um Aufklärung über das zu erhalten, was sie eben erlebt und im ersten Schrecken nicht recht zu deuten wußten. Wer noch auf war, eilte auf die Straße. Im Nu war die Kaiserstraße mit Menschen angefüllt, die Cafés und Wirtshäuser leerten sich und in Gruppen stand man zusammen und unterhielt sich nach dem ersten Schrecken aufs eifrigste über das Erdbeben, das in solcher Heftigkeit seit Menschengedenken hier nicht erlebt wurde. In manchen Häusern sollen auch Möbelstücke umgefallen sein. Einzelheiten über die Schäden liegen noch nicht vor. Wie uns von geschätzter Seite gemeldet wird, setzte das Beben 10 Uhr 26 Minuten und hatte eine Gesamtdauer von 33 Sekunden. Das Maximum, das sich im Schwanken der Möbel und in der Bewegung der Gegenstände in den Wohnungen äußerte, trat nach 15 Sekunden ein. In diesen Augenblicken war die Situation geradezu unheimlich. Unruhig flatterten die aufgescheuchten Vögel umher.
Von mehreren Dächern flogen Ziegel auf die Straßen.
Wie uns die einlaufenden Telegramme zeigen, wurde das Erdbeben im ganzen Lande und im benachbarten Elsaß verspürt.
Aus der Wiehre wird uns geschrieben: Abends gegen 10.25 Uhr wurde in der Wiehre ein von Süden nach Norden gehender heftiger Erdstoß verspürt. Auf den Straßen unterhielten sich kleine Gruppen erregt über die Erscheinung, die Fenster erklären und Häuser erzittern ließ. Das Beben wurde von unterirdischenDonnern begleitet.
Auch im Stühlinger machten sich die Erdstöße heftig bemerkbar. Wer nicht bereits zu Bette lag, eilte nach Überwindung des ersten Schreckens auf die Straße, wo sich Leute genug einfanden, mit denen man seine Eindrücke austauschen konnte. Alles stimmt darin überein, daß die Häuser merklich zitterten und schwankten. Leute, die bereits schliefen, wurden durch die schaukelnden Bewegungen der Gebäude aus dem Schlummer gerissen. In verschiedenen Häusern blieben die Uhren stehen, in anderen stürzten Gegenstände zu Boden.
In Günterstal stürzte ein Teil der Klostermauer in der Hirschstraße ein.
Unser Freiburger Münsterturm hat bei dem Beben eine schwere Probe glänzend bestanden. War in der Stadt die Erschütterung so heftig, so machte sie sich natürlich droben auf Turmeshöhe noch viel stärker bemerkbar. Die Erschütterung war dort oben so gewaltig, daß der diensttuende Wächter mit elementarerer Wucht gegen das Geländer geworfen wurde, wo er sich festhalten mußte, um nicht in die Tiefe geschleudert zu werden. Der andere Wächter wurde aus dem Bette geworfen. Die Heftigkeit der konträren ruckweisen Bewegungen erhellt auch aus der ungewöhnlichen Tatsache, daß zwei Glöckchen anschlugen. Die gefahrvolle Probe hat unsere auf acht Säulen ruhende Münsterpyramide glänzend bestanden, ein Beweis für ihre hervorragende solide Konstruktion. Wie der Münsterarchitekt, Herr Kempf, zu seiner und gewiß der ganzen Bevölkerung Freude feststellen konnte, ist keinerlei Beschädigung eingetreten. Anders ist es, wie an anderer Stelle zu lesen ist, dem alten Konstanzer Münster gegangen.
Während das Hauptbeben kurz vor 1/2 11 Uhr wohl von allen Erwachsenen und vielen Kindern verspürt worden ist, scheinen die späteren Erschütterungen nur von wenigen wahrgenommen worden zu sein. Ein zweiter kurzer Stoßwar gegen 12 Uhr zu verspüren und gegen vier Uhr war ebenfalls eine leichte Erschütterung mit kurzem unterirdischen Donner wahrzunehmen.
Ungewöhnlich großartig und von gewaltiger Kraft war heute das Morgenrot.

Noch aus vielen anderen Orten liegen uns Berichte unserer Mitarbeiter vor....
In Falkensteig merkte man Erschütterungen um 10.20, 1/2 12, 1/2 2 und 1/2 3 Uhr. Der erste Stoß war am stärksten.
Auch auf dem Turner hörte man um 1/2 11 Uhr das Getöse und verspürte man das Schwanken. Im Verlauf der Nacht nahm man 4 bis 5 weitere Erschütterungen wahr.

Freiburger Zeitung 18.November 1911
Aus dem Dreisamtal. 17.November. Auch hier erschreckte das Erdbeben nicht wenig. Kurz vor 1/2 11 Uhr bemerkte man einen Stoß, der manchem Schläfer entging. Aber kurz nach 1/2 11 Uhr folgte einer blitzartigen Helle eine zweite heftige Erschütterung. Das elektrische Licht versagte, die Häuser erzitterten, die Tafeln, Kästen, Stühle, Tische, leichte Geschirre und selbst die Bettstellen wankten. Kinderwagen gewagten sich. Die Ketten an den Wagen und an den Wänden rasselten und die Fenster klirrten. Um 12 und um 2 Uhr wurden noch weitere leichtere Erschütterungen verspürt. Aus verschiedenen Orten wird berichtet, daß Kamine Schaden genommen haben und teilweise eingestürzt seien.

Feldberg, 17. November. Durch ein wiederholtes starkes, etwa 4 Sekunden dauerndes Erdbeben, wie es die Einwohnerschaft seit fünfzig Jahren  des vergangenen Jahrhunderts nicht mehr erlebte, wurde der hiesige Ort gestern abend in nicht geringe Erregung versetzt. Es war etwa 1 Minute bevor die Kirchturmuhr 1/2 11 Uhr schlug. Da erhob sich plötzlich ein starkes Geräusch, als ob ein allzuschwer beladenes Steinfuhrwerk über holperiges Pflaster gezogen würde. Doch ein Bruchteil einer Sekunde genügte, um jeden Erklärungsversuch der seltsamen Erscheinung wieder fallen zu lassen. Es muß aus der Tiefe der Erde kommen, wußte man alsbald.Da rüttelt ein Simson am Hause, der alte Atlas fängt unter seiner Last zu zittern an; ein Riese, wie der Spanier Goya ihn einst gemalt hat, so groß, daß ihm der Berg zum Stuhl dient und die Füße die Talregionen hinaufreicht, so ein Riese muß in seiner unterirdischen Höhle toben und wettern und vielleicht einen Ausgang suchen wie der geblendete Polyphem. Nur die seelenruhigsten Schläfer merkten nichts von dem Erdbeben. Aber die anderen fuhren erschreckt auf; man zündete Lichter in den Häusern an, eilte auf die Straße und getraute sich zuerst kaum mehr das Bett aufzusuchen. Da fiel nur der Verputz von der Decke herunter, dort stürzte eine ganze Decke herunter, vom Pfarrhaus fiel ein Teil des Schornsteins auf die Straße. Das Beben war kein wellenförmiges wie vor einigen Jahre, sondern ein recht unsanftes Rütteln und Schütteln von Menschen und Häusern, so ungemütliche, daß selbst die Hunde zu bellen anfingen und für manche so beängstigend, daß sie den Einsturz ihrer Häuser befürchteten.

Freiburger Nachrichten Sonntag, 19.November 1911, Drittes Blatt
Das jüngste Erdbeben in Süd-Deutschland.
Von Dr. N. Blume
Das Erdbeben in der Nacht vom 16. auf den 17. November in Süddeutschland weckt in uns die Erinnerung an das große Erdbeben, das am 28. Dezember 1908 und in den folgenden Tagen die Nordspitze der Insel Sizilien und die Südwestspitze der Halbinsel Italien heimsuchte und in wenigen Augenblicken die blühende Stadt Messina zerstörte und tausende von Menschenleben vernichtete. Waren auch die Erdstöße bei uns nicht so schwer wie in Süditalien damals, so ist doch die Ausdehnung des Erdbebengebietes bei uns eine viel größere als dort. Während in Italien das Erdbebengebiet sich auf nur 50 Kilometer nördlich und 50 Kilometer südlich von Messina, einen Raum von der Größe etwa der Strecke Lahr bis Basel, ausdehnte, umfaßt das des jüngsten Erdbebens bei uns ganz Süddeutschland.

Ein Vergleich mit dem fürchterlichen Wirken der Naturgewalten in Italien mit den jüngsten Ereignissen in Deutschland drängt sich um so mehr auf, als die Ursachen in beiden Erdbebengebieten wahrscheinlich ähnliche sind. Wie nämlich in den vielgestaltigen Ausbuchtungen des thyrrhenischen Meeres, die die Westküste Italiens und die Nordostküste Siziliens umsäumen, schon vor Jahrtausenden ein gewaltiger Zusammenbruch des Meeresbodens stattgefunden hat, und einst ganze Gebirgszüge, die früher die jetzige Insel Sizilien mit dem Festland verbanden, durch Senkungen verschwunden sind, so ist einst das jetzige Rheintal durch Spalten und Senkungen zwischen dem ursprünglich ein Gebirge bildenden Schwarzwald und den Vogesen entstanden. Aehnlich wie eine große Bruchlinie nach der Forschung der Geologen vom Osten Siziliens nach dem Süden Italiens als Mittellinie durch einen elliptisch umgrenzten Raum zieht, so erstreckt sich auch eine solche Linie in der Länge des Rheintals von Norden nach Süden; sie beginnt etwa in der Gegend von Basel und endet etwa in der Nähe von Mainz, Aehnlich wie der heute noch tätige gewaltige Aetna (3374 Meter) am Südrande jenes Raumes, erhebt sich am südlichen Ende des hier in Betracht kommenden Teils des Rheintals das umfangreiche vulkanische Gebiet des Kaiserstuhls. Die Bildung der durch große Senkungen entstandenen Straße von Messina spiegelt sich in der griechischen Mythologie in der Sage wieder, daß hier einst Poseidon seinen Dreizack in die Erde gestoßen habe. So wie sich gegen die liparischen Inseln die Erdrinde schüsselförmig gesengt hat und radiale Sprünge die Erdkruste spalten, ebenso durchziehen mächtige innere Risse das Rheintal, an die sich mächtige Erdschollen (das Großherzogtum Baden auf der einen Seite und das Reichsland Elsaß und die bayerische Rheinpfalz auf der anderen Seite) schräg, in konvertierter Stellung lehnen. Natürlich haben diese gewaltigen Schollen und die darauf lastenden Gebirge bei der Anziehungskraft der Erde das Bestreben sich nach unten und ins richtige Gleichgewicht zu setzen. Jede Gleichgewichts veränderung oder gar -störung hat wie in Sizilien so auch in Baden, im Elsaß und in der Rheinpfalz Erschütterungen, dort des Festlandes und Meeres, hler des Landes allein zur Folge. Während in Italien seit Jahrtausenden der Brennpunkt der Erdbeben Messina ist, bildet den Mittelpunkt der Erdbewegungen in unserer Heimat Basel. Durch Zusammenstellung aller geschichtlichen Aufzeichnungen über Erderschütterungen in den Gegenden zwischen Basel und Karlsruhe ergeben sich seit dem Jahr 855 n. Chr. bis in die neueste Zeit etwa 700 Beben. Das schwerste davon war ohne Zweifel im Jahr 1356, wobei Basel ebenso schwer wie vor drei Jahren Messina heimgesucht wurde und auch tausende von Menschenleben vernichtet und unzählige Gebäude zerstört wurden; Wohnungen und Kirchen wurden dort in wenigen Augenblicken in Trümmerhaufen verwandelt; am härtesten wurde in Basel das Münster mitgenommen, in dem nicht nur die Rosette wie auf dem Turm des Münsters in Konstanz diesmal herabfiel, sondern von dem der größte Teil einstürzte. Die Spuren der verheerenden Wirkungen jenes Erdbebens sind noch jetzt am Münster in Basel zu erkennen.

Doch scheint das Wirken der Naturgewalten im Innern der Erde bei den neuesten Erdbewegungen seinen Hauptherd nicht so sehr Basel als etwas östlich davon in Konstanz gehabt zu haben, oder südlich davon in der Mittelschweiz. Glücklicherweise sind aber die Folgen der Erderschütterungen, soweit sich die eingelaufenen Nachrichten übersehen lassen, nirgends auch nur annähernd so schlimm gewesen wie im Jahre 1356 in Basel und im Jahre 1908 in Messina. An keinem Orte sind wenigstens gottlob Menschenleben zu beklagen. Auch scheinen die Sachbeschädigungen von viel geringerer Bedeutung zu sein als namentlich in Messina, wo einschließlich dem übrigen Sizilien und
Süditalien vor drei Jahren der Verlust von rund 200 000 Menschen und die Einbuße von etwa 150 Millionen Mark durch Zerstörung von Gebäuden und ein heute noch nicht genauer berechenbaren Schaden an mobilem Besitz zu beklagen war.

Wie aber im Süden weitere Veränderungen des Meeresbodens und erneute tiefere Spaltungen und innere Rutschigen immer wieder neue Stöße des Erdbodens verursachen werden, deren Wirkungen durch das Vorhandensein des Meereswassers gefährlicher als sonst anderswo sich gestalten können, so wird leider auch unsere Heimat namentlich zwischen Basel und Mainz im Laufe der nächsten Jahrtausende nicht verschont bleiben von größeren und kleineren Erdsenkungen, die häufig leichtere oder schwerere Erdschwankungen und selbst Erdbeben wie das kürzlich mit oder ohne rollende Geräusche zur Folge haben können