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Karl Ketterer, Mechaniker in St.Peter
Joseph Ludolph Wohleb


Bilderschau der Freiburger Zeitung Nr. 46 von 1929

 
Karl Ketterer - Oelstudie nach dem Leben von A.G. Knittel Freiburg
Kreuz im "Engel" (Sägendobel)
Ketterers Wunderuhr
Ketterer hatte in seinen Papieren gekramt und ein paar Zettel hervorgesucht, auf der Freunde Drängen hin niedergelegte Gedanken über sein Leben und seine Welt. Er lächelte verlegen. Dann begann er zu lesen:
„Ich bin am 30. November 1838 in Burg bei Kirchzarten geboren. Mein Vater war der „Mattenbernhard", Bernhard Ketterer aus Unteribental, meine Mutter stammte aus Eschbach. Da beide der Arbeit nachgehen mußten, kam ich früh zu Verwandten ins „Schuhhäusle" in Eschbach. Hier wuchs ich auf. Ich lernte notdürftig lesen, rechnen und schreiben und wurde, mit zehn Jahren Hirtenbub beim „Scherle" (Joses Scherer). Als Lohn für das Viehhüten brachte ich nach Ablauf des Sommers der Mutter ein Paar Hosen, ein Paar Schuhe und zwei Hemden mit nach Hause. Auch in den folgenden Schuljahren war ich während des Sommers da und dort Hirtenbub.
Aus meiner Schulzeit fällt mir noch ein Vorkommnis ein. Es war verfügt worden, daß die acht begabtesten Schüler Eschbachs sich in Freiburg einer Prüfung zu unterziehen hätten. Unter ihnen befand auch ich mich, kam mit den übrigen und dem Herrn Lehrer am festgesetzten Tage in der Stadt an, wo vor dem Wirtshaus zum „Bären" haltgemacht und der Leiterwagen mit den Pferden eingestellt wurde. Bis dahin hatte ich keine Stadt gesehen. Die Menschenmenge, die hohen Häuser, die Kaufläden mit ihren Schaufenstern, kurz das Neue, noch nie Geschaute, machten auf mich einen tiefen Eindruck. Und als ich erst auf der Kaiserstraße einer Kompagnie Soldaten begegnete, blieb ich wie angewurzelt stehen, bis die letzte Helmspitze meinen Augen entschwunden war.
Unter dieser Zeit waren aber auch der Herr Lehrer und meine Mitschüler verschwunden. Alles Fragen nach ihnen und dem Prüfungslokal blieb vergebens, und wie ein verirrtes Schäflein stolperte ich die Straße auf und ab. Von großem Heimweh erfaßt, entschloß ich mich endlich, sofort wieder über Stegen nach Eschbach zurückzukehren. In der festen Meinung, auf dem richtigen Wege zu sein, trabte ich nordwärts durch Zähringen und kam hungrig und durstig zur Mittagszeit in Denzlingen an. Als ich dort einen Hausierer nach dem Wege nach Eschbach fragte, merkte der gute Mann bald, daß er einen Fehlgegangenen vor sich hatte. Er erbarmte sich meiner und nahm mich auf seine Kosten mit dem nächsten Zug mit nach Freiburg zurück. Von Fahrgästen, die von meiner unfreiwilligen Reise erfuhren, erhielt ich Geld, damit ich mir in der Stadt Brot kaufen sollte.
So war beim Unglück auch wieder Glück, und während meine Mitschüler im Prüfungs- lokal schwitzten, machte ich meine erste Eisenbahnfahrt. Vom Hauptbahnhof brachte mich mein Wohltäter zu der mir und ihm bekannten Hefnertrude, welche mich im „Bären" wieder auf den Leiterwagen ablieferte, auf welchem sich meine Kameraden eben breit machten, wieder nach der Heimat zu fahren. Sie waren froh, den Vermißten wieder bei sich zu haben. Aus diesem Grunde drückte auch der Herr Lehrer, dem ich meine Irrfahrt erzählte, ein Auge zu. Das also war mein erster Besuch der Stadt Freiburg.
Bald nach dieser Begebenheit siedelten meine Mutter, mein Bruder Hermann und ich nach Denzlingen über und erhielten bei meinem Taufpaten billige Unterkunft. Den Sommer über hütete ich im Steirental. Während des Winters aber war ich bei der Mutter und besuchte die Schule in Heuweiler.
Hier bereitete ich mich auch auf die erste heilige Kommunion vor. Als der ersehnte Weiße Sonntag kam, waren Rock und Hose noch in leidlich gutem Zustand, doch mit dem Schuhwerk war ich schlecht bestellt. Zwar hatte mir der Vater versprochen, von Freiburg mir ein Paar neue Schuhe zu besorgen. Allein auch am Festtagmorgen hatte ich sie noch nicht. Schon war die höchste Zeit, mich auf den Weg nach Heuweiler zu machen. In letzter Minute lief darum meine Mutter zum Nachbar Malzacher und lieh von einem seiner Buben für mich ein Paar Schuhe. Doch kaum hatte ich sie an den Fußen, als aus dem rechten Schuh meine große Zehe lustig zu einem großen Loch heraussah. Was nun? Kurz entschlossen griff meine Mutter zur Schuhbürste und überstrich die vorwitzige Zehe mit Schuhschmiere. Schon war ich nach Heuweiler unterwegs, da sah ich in der Ferne meinen Vater die langersehnten Schuhe schwingen. Sie kamen zu spät. Im Dorf hatten sich schon alle übrigen Erstkommunikanten zum Kirchgang aufgestellt. Als letzter im Zuge folgte ich ihnen und empfing dann, mit meinem Los zufrieden, das Himmelbrot.
Da meine Schulzeit nun beendigt war, mußte ich von jetzt ab meinen Unterhalt selbst verdienen. Bei den ärmlichen Verhältnissen, in denen wir lebten, ist es kein Wunder, daß meine körperliche Entwicklung zurückgeblieben war. Doch änderte sich das in den nächsten Jahren.
Ich verdingte mich zunächst als Hirte bei einem Bauern in Eschbach. Doch bei ihm ging es mir herzlich schlecht. Er war nämlich ein Grobian und Trunkenbold. Schon in der Morgenfrühe des ersten Arbeitstages erhielt ich von ihm, während ich noch im Bett lag, eine Tracht Prügel, weil ich noch nicht aufgestanden war. Als juckendes Andenken nahm ich bei meinem Weggang die Räude mit, welche ich vom Knecht geerbt hatte. Bei meiner Mutter, die nun in Zähringen wohnte, brachte ich meinen Körper wieder in Ordnung.
Als die Vögel im nächsten Frühjahr ihre Lieder ertönen ließen, trat ich als Hirtenbube beim „Pfisterbauer" in Hintereschbach ein, und ein Jahr später als Drittknecht beim „Leistmacher" in Unteribental. Da man mir hin und wieder auch das Hüten übertrug, hatte ich Gelegenheit, meinen ersten „Christus" zu schnitzen. Ich brachte ihn nachher an einem Baume im Wald an.
Wieder zog es mich nach meiner alten Heimat Eschbach. Drei Jahre arbeitete ich als Knecht beim „Mattislebauer". Nachher hatte ich noch mehrere Stellen und wurde drüber des Knechtseins überdrüssig. Daher entschloß ich mich, dem Rate meines Bruders zu folgen und ihm beim Holzmachen im Walde behilflich zu sein. Nun wohnten wir wieder beisammen, denn auch die Mutter war wieder nach des Engelwirts Berghäusle umgezogen. Nebenbei taglöhnerte ich und war Straßenwart auf der Strecke Stegen - St. Peter. Sogar zum Polizeidiener von Eschbach habe ich es gebracht und versah dann vier Jahre lang diesen Dienst. Dann bekam ich eines Nachts eine Meinungsverschiedenheit mit dem Bürgermeister. Er beschimpfte mich. Ich warf ihn in den Straßengraben und ging meiner Wege.
Nämlich nach Amerika. Zum Krach mit dem Bürgermeister kam noch etwas anderes: Ich wollte heiraten. Aber mein Schatz, Wilhelmine Rut aus St. Peter, war gerade so arm wie ich. Und auf diese doppelte Armut hin wollte ich eine Heirat nicht riskieren. Ich sann darüber nach, wie ich uns aus der Armut helfen könne. Da hörte ich von Amerika, dem Land, wo sich schon so viele das geholt und verdient hätten, was ich benötigte: das Geld. Bald stand mein Entschluß fest, in der Neuen Welt mein Glück zu versuchen. Am 16. April 1869 drückte ich meiner Wilhelmine die Hand zum Abschied und trat die Reise an übers Weltmeer.
Mit einem Dampfer der Hamburg-Amerika-Linie kam ich nach elftägiger, glücklicher Fahrt in Neuyork an, wo mich ein Bekannter, der aus Eschbach stammte, erwartete. Er brachte mich nach Exzelsior, einer Stadt in Pennsylvanien. Hier gedachte ich in einem Steinkohlenbergwerk Arbeit zu finden. Weil aber gerade ein Streik ausgebrochen war, mußte ich mir als Gelegenheitsarbeiter meinen Unterhalt verdienen. Nach beendigtem Streik aber wurde ich Bergmann und wohnte in Exzelsior vom August 1869 bis zum Oktober 1874. Täglich verdiente ich zwei Dollar: ich wohnte bei einer deutschen Familie.
Leider aber war das Kohlenbergwerk nur fünf bis sechs Monate während des Jahres in Betrieb. Die übrige Zeit arbeitete ich an der Eisenbahn. Doch gelang es nicht immer, hier Verdienst zu finden, und öfter war ich arbeitslos. Zum Zeitvertreib fischte ich, suchte Beeren und Heilkräuter, oder ich saß von Freunden umringt aus meiner Stube, wo allerlei Pläne geschmiedet wurden.
Unter meinen Zimmerfreunden war ein alter Matrose, August Peters aus Luxemburg. Dieser machte mir den Vorschlag, wir wollten zusammen zur Unterhaltung ein Schifflein bauen. Da Peters meine mangelhaften Kenntnisse über Schiffsbau ergänzte, schnitzte ich ein prächtiges Fahrzeug, das allerdings nicht zum Fahren, sondern nur zum Anschauen bestimmt war. Denn das Schifflein war klein, aber es enthielt doch im kleinen vieles, was auf den großen Schiffen nur entsprechend größer ist. Es zählte drei Masten, 28 Segel, und kunstgerecht geschnitzt stand auf der Brücke der Kapitän und schaute mit dem Fernrohr in die Weite. Gegen ein Trinkgeld, denn Geld brauchten wir nötig, konnte jedermann das geschnitzte Schiff betrachten. Auf diese Art brachten wir nach deutschem Geld etwa 200 Mark zusammen.
Durch den Erfolg im Schnitzen ermuntert, verlegte ich mich wieder mehr auf diese Kunst und fertigte ein Kruzifix, das ich meinen Hausleuten schenkte. Hernach kam für mich eine trübe Zeit. Mein Geld war verbraucht, und immer noch gab es keine Arbeit. Ich schnitzte wieder einen Christus und suchte ihn zu Geld zu machen. Aber umsonst ging ich bei großer Hitze zehn Meilen weit nach dem nächsten Städtchen. Weder in den Wirtschaften noch im Pfarrhaus hatte man Lust, mir das Kreuz abzunehmen.
Traurig, fast hoffnungslos, kehrte ich am Abend müde nach Exzelsior zurück. Meine Not war groß, doch Gottes Hilfe nahe. Ein amerikanischer Postbeamter verschaffte mir Arbeit an der Eisenbahn, was mir wieder täglich zwei Dollar einbrachte.
Bald konnte ich auch wieder meine gewohnte Arbeit im Bergwerk aufnehmen. Des Abends, wenn ich aus der Grube kam, saß ich dann öfters mit anderen Bergleuten zu einem Plauderstündchen zusammen. Auf freien Plätzen lagen da Gruppen von Deutschen, Polen, Irländern usw. beisammen. Ich setzte mich meist zu meinen Landsleuten und erfuhr das Wichtigste, was sich in der alten Heimat über dem Wasser abgespielt hatte, aus Zeitungen und Briefen, die vorgelesen wurden. Nicht selten kam einer auf seine Reisen zu sprechen, erzählte von den Sehenswürdigkeiten, die er geschaut hatte, und alles lauschte gespannt.
So schilderte ein Matthias Linder, ein geborener Bayer, eines Abends auch die kunstvolle Uhr in Straßburg, die er einst auf seiner Wanderschaft kennengelernt hatte. Die Schilderung dieses Kunstwerks mit seinem wunderfeinen Mechanismus wirkte so tief auf mich ein, daß ich in der folgenden Nacht vor Aufregung kein Auge schloß. Immer war mein sinnender Geist bei der kunstvollen Uhr, und es erwachte in mir das heiße Verlangen, auch eine ähnliche Uhr zu verfertigen.
Gleich wurde mit Zirkel, zwei Messern und einer Säge an die Ausführung des Planes gegangen. Aus dem nahen Wald holte ich mir das nötige Holz zu Rädern. Die von einem Gummibaum stammenden Holzscheiben wurden mit Erdöl getränkt und getrocknet. Zunächst fertigte ich acht gleichgroße Räder: jedes Rad zählte 48 Zähne. Bald mußte ich einsehen, daß nicht alle Räder gleichgroß sein durften. Auch die Zahnzahl mußte geändert werden. Ich fing an zu rechnen. Doch ließ die Lösung des Rätsels lange auf sich warten. Zuletzt verzweifelte ich an der Ausführbarkeik meines Planes und warf das Räderwerk zum Fenster hinaus. Doch eine biedere Schwäbin, die im gleichen Hause wohnte, holte mein Versuchsobjekt wieder herein und sprach mir Mut zu.
Also nahm ich meine Arbeit wieder auf. Weil ich die Hauptschwierigkeiten, die Schaffung des Räderwerks, nicht gleich überwinden konnte, verlegte ich mich auf die anderen Arbeiten für die Uhr. So entstanden in der freien Zeit im Laufe eines Jahres die zwölf Apostel, Christus und der Hahn. Mit dem Schnitzen ging es gut vonstatten. Nur mit dem Hahn, der doch krähen und seine Flügel schlagen sollte, hatte ich anfänglich wieder Pech. Ich konnte das Werkchen im Körper des Hahnes nicht unterbringen. Er war zu klein. Dem konnte abgeholfen werden. Und siehe: der größere Hahn krähte und erfüllte prompt all die Anforderungen, die ich an ihn stellte. Ich hatte eine kindliche Freude an dem Gelingen: meinem Freund Georg Sauter rollten abends, als er den Hahn seine Kunststücke ausführen sah und dessen Kikeriki hörte, Tränen der Freude über die Wangen.
Die Figuren waren fertiggestellt. Nun mußte ich wieder ans Räderwerk der Uhr denken.
Keine gewöhnliche, sondern eine kunstvolle Uhr sollte entstehen, eine Uhr, die durch Viertel- und Stundenschlag die täglichen Zeiten, die außerdem noch die Wochentage, Monate und Mondphasen angeben sollte. Schlag 12 Uhr sollten die Apostel am Heiland Vorbeigehen, alle sich vor ihm verneigen, mit Ausnahme des Judas. Auch der Hahn mußte zur bestimmten Zeit seinen Ruf ertönen lassen.
Eifriges Nachdenken hatte den Erfolg, daß ich fand, vier selbständige Werke seien nötig, um die Funktionen ausüben zu können. Der Reihe nach gelang es mir, das Gangwerk der Uhr, zwei Schlagwerke und zuletzt das automatisch wirkende Werk für die Figuren zu konstruieren und einzusetzen.
Allerdings war das für mich eine riesige Arbeit. Der Bau der Uhr nahm mich vollauf in Anspruch, so daß ich anderthalb Jahre vor ihrer Vollendung nicht mehr in die Grube fuhr. Und nicht selten kam es vor, daß ich nachts, wieder aufstand, zirkelte, verbesserte, rechnete und feilte. Wenn mein überanstrengter Kopf dann und wann heiß und übermüdet war, so trieb es mich hinaus, in der kühlen Nachtluft Erholung zu suchen. Doch länger nahm die Uhr Zeit in Anspruch, als ich angenommen hatte, und mein erspartes Geld, es waren 200 Dollar, gingen zu Ende. Wohl gaben mir gutherzige Leute Unterstützung. Doch hätte sie nicht ausgereicht, mich auch nur kümmerlich zu ernähren. Auch die Trinkgelder, die ich von Neugierigen bekam, die das im Entstehen begriffene Werk besichtigten, linderten nur wenig meine Not. Dazu wurde ich noch krank. Ich bekam die Blattern, so daß ich isoliert werden mußte. In meinem Fieber fristete ich drei Wochen lang ein Leben des Elends und des Jammers.
Doch meine widerstandsfähige Schwarzwäldernatur besiegte die Krankheit. Ich wurde wieder gesund und konnte meine Uhr vollenden. Welche Freude erfaßte mich da, als nach drei Jahren und drei Monaten mein Werk fertig vor mir stand. Zu aller Freude funktionierte alles auf das beste. In der ganzen Umgebung wurde dies bekannt, und in Scharen strömten die Leute auf mein Zimmer, um meine Uhr zu sehen und zu bewundern.
Es liegt nun auf der Hand, daß ich, als das Werk seine Aufgabe gut erfüllte, darauf denken mußte, mit ihm Geld zu verdienen. An Ort und Stelle lieh ich mir eine Reklamenotiz aufsetzen. Sie erschien dann jeweils in den Zeitungen des Orts, wo ich mich auf meinen Reisen gerade aufhielt.
Es begann für mich ein Wanderleben. War sie in einer Stadt aufgestellt und die nötige Reklame gemacht, so wurde sie dem Publikum gegen Eintrittsgeld erklärt und in Tätigkeit vorgeführt. Die Beschreibung übernahm ein Amerikaner, der mich aus meinen Wanderfahrten begleitete und sich leichter als ich verständigen und verständlich machen konnte. Doch rentierten sich diese Reisen nicht so, als ich mir vorgestellt hatte. Den guten Einnahmen standen auch große Ausgaben, Frachtgelder für die Uhr, Reklamekosten und sonstige Ausgaben, die ein Reisender eben machen muß, gegenüber. Nachdem ich 32 Städte so bereist hatte, wurde ich des Wanderns müde und entschloß mich, wenn auch schweren Herzens, meine Uhr gegen gute Bezahlung zu verkaufen. Mit dem Geld aber wollte ich heimkehren zu meiner Wilhelmine, um im Schwarzwald eine Familie zu gründen.
Ich hatte Glück. Zwei Deutschamerikaner, Gebrüder Hertenstein in Philadelphia, erwarben meine Uhr für 6000 Dollar, das sind über 24.000 Mark nach deutschem Geld. Der Zweck meiner Reise nach Amerika war erfüllt
Im Oktober 1874 schon trug das Schiff einen hoffnungsvoll in die Zukunft blickenden, kräftigen jungen Deutschen, dessen Gesicht von hellblondem Vollbart umrahmt war, wieder nach Deutschland in die Heimat zurück. Über Hamburg gelangte ich glücklich in Frankfurt an. Hier löste ich meinen Wechsel ein und dampfte nach Freiburg.
Dichter Nebel lag über der Stadt, als ich gegen 8 Uhr abends eintraf. Sofort begab ich mich nach Hummels Weinstube am Münsterplatz, denn dort sollte ich meine Wilhelmine nach fünfeinhalb Jahren wiedersehen. In der Wirtsstube musterte ich die versammelten Gäste, konnte aber leider die nicht finden, die mein Herz so sehnsüchtig verlangte. Ich gab mich den Wirtsleuten zu erkennen. Sie konnten sich sogar an den Abschied erinnern, den ich hier vor meiner Reise ins Ausland mit meinem Schatz getrunken hatte. Da öffnete sich plötzlich die Türe und herein trat Wilhelmine. Ich konnte mich nicht mehr halten, sprang auf, eilte auf sie zu, umarmte sie vor allen Gästen und küßte sie wiederholt. Das war ein Wiedersehen, so rührend, daß selbst den Anwesenden, die durch die Wirtsleute die näheren Umstände erfuhren, die Tränen in den Augen standen. Wir waren glücklich wieder beisammen, und das Erzählen wollte kein Ende nehmen. Noch am gleichen Abend, es war am Vorabend von Allerheiligen, fuhren wir beide im Wagen hinauf nach St. Peter. Hier gedachten wir unseren Wohnsitz zu nehmen.
So kam es auch. Bald waren wir Mann und Weib. Bis 1879 wohnten wir an verschiedenen Orten in Miete. Dann entschloß ich mich, ein eigenes Haus zu bauen. Im Frühjahr 1879 wurde der Grundstein zu diesem Haus gelegt, und ich konnte schon im Spätjahr meinen Einzug halten. — Schon vor dem Hausbau übte ich mich in der Holz- und Eisendreherei. Ich reparierte Uhren und schnitzte Christusfiguren für Kreuze und auch andere Figuren. In jener Zeit entstand das große Kruzifix für die Wirtschaft zum „Engel" im Sägendobel, welches die Inschrift trägt: „Das tat ich für dich — Was tust du für mich?" Anläßlich der Uebergabe hielt ich über das Thema vor vollbesetztem Saale eine einstündige Predigt. Diese Aufgabe fiel mir nicht schwer. Denn drüben in Amerika hielt ich oftmals unter uns Arbeitern Bibelstunden.

Ketterers Haus am Steig in St.Peter
Aufnahme: Emil Engel, Freiburg
Ketterers Werkstatt
Aufnahme: Emil Engel, Freiburg
Der Amboss

Beim Hausbau wurde der vordere Raum des Kellergeschosses als Werkstatt bestimmt. Nach dem Einzug ging ich daran, sie einzurichten. Ich wollte mir in der Hauptsache als Mechaniker und Schlosser das Brot verdienen. Nach und nach erfüllten Esse, Amboß, Bohrmaschine, Drehbänke und Werkbänke den Raum. Da ich kein gelernter Schlosser war, mußte ich mir durch Beobachtungen bei umwohnenden Schlossern und Schmieden das Handwerkszeug selber zurechtschmieden. Meine Fertigkeit brachte mich bald dahin, daß ich mit meiner Arbeit zufrieden sein konnte. — Doch wurden von Seiten der Bauern noch mannigfache Anforderungen an mich gestellt, die mit dem gewählten Beruf nicht viel oder gar nichts zu tun hatten. So arbeitete ich zwischenhinein als Steinbauer und Vergolder der Grabkreuze. Außerdem konnte man mich als Maler und Schriftschreiber gebrauchen. Auch in der Heilkunde versuchte ich mich und habe gern manchem Schwarzwaldsohn den schmerzenden hohlen Zahn mit meinen Instrumenten zum Zahnziehen entfernt. Außerdem bin ich schon seit Jahrzehnten eine „Stütze der Wissenschaft:" Ich messe auf meiner Regenstation im Garten täglich die Niederschläge, notiere sie und berichte die Ergebnisse nach Karlsruhe. — Bei all meiner Arbeit ums tägliche Brot habe ich die geistige Arbeit doch nicht vernachlässigt. Wie ich durch meine Reise tiefe Blicke in die Welt getan, so hatte ich im stillen, von der Welt abgeschlossenen St. Peter, Zeit, namentlich im Winter, hinter den Büchern zu sitzen. Im Laufe der Zeit legte ich mir eine Bibliothek an, die sich sehen lassen kann. Sie ist für mich besonders deswegen so wertvoll, weil ich sagen darf, daß ich meine Bücher auch innen kenne. Auf diesem Weg hörte ich von Schiller, der mich mächtig fesselte. Viele seiner Gedichte lernte ich auswendig und bin in meinen alten Tagen noch gut imstande, seine größten Gedichte Work für Wort vorzutragen. Auch über die Grundfragen alles Seins grübelte ich Jahre und Tage nach und suchte hinter manches zu kommen, was dem Menschengeist zu wissen bis jetzt versagt geblieben ist. Das waren die schönsten Stunden meines Lebens. - In der Zeit, in der ich ein Suchender nach Gott war, schweifte mein Blick hinauf zu den Sternen, wo alles Erdenelend verstummt ist, und gar manche sternenhelle Nacht fand mich und findet mich heute noch an meinem großen Fernrohr.
29 Jahre hatte ich mit meiner Frau in zufriedener Ehe gelebt. Aus der Ehe entsproß eine Tochter, die heute im Glottertal verheiratet ist. Da fing meine Frau an zu kränkeln. Eine heimtückische Krankheit fesselte sie ans Bett, bis sie durch den Tod von ihrem Leiden erlöst wurde. So stand ich mit 66 Jahren wieder allein. Ich entschloß mich, noch einmal zu heiraten, und fand eine treubesorgte Hausfrau, welche mir in meinen alten Tagen noch ein Mädchen schenkte, unsere Luise. Sie ist unsere Freude und unsere Hoffnung im Alter und macht auch ihren Lehrern in der Schule durch Fleiß, Leistungen und gutes Betragen Freude."
Es mag um 1910 gewesen sein, als Karl Ketterer diese Lebensgeschichte niederschrieb. Immer voller Freude an seiner Arbeit stand er noch ein Jahrzehnt vom Morgen bis zum Abend in seiner Werkstatt, zwischen den tausenderlei Werkzeugen, die er sich selbst zusammengesetzt, und den Maschinen, die er, der Autodidakt, ersonnen hatte. Die Abende verbrachte der nimmermüde Alte bei seinen Büchern und einen Gutteil der Nacht hinter dem geliebten Fernrohr. — Karl Ketterer starb 88jährig im März des Jahres 1922 in St. Peter.