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Schöne Kirche
Vortrag von Meinrad Walter

Blick in die Zeit - SWR II
Sonntag, 22. August 2004, 14.50 - 15.00 Uhr


Wenn ich am Schreibtisch sitze, sehe ich durch das Fenster auf die Kirchentür. Jeden Tag gehen dort Menschen ein und aus. Die einen kommen zu Fuß, aus dem Dorf; andere fahren mit dem Auto vor; und im Sommer sind einige mit dem Fahrrad unterwegs. Manche wissen vielleicht, dass diese Jakobus-Kirche an einer Seitenroute des Jakobsweges liegt, der bis heute blühenden Wallfahrt nach Santiago. Anderen wiederum ist das gleichgültig. Sie sind einfach neugierig, suchen etwas Schatten oder Ruhe, wollen sich sammeln oder vielleicht auch beten - sie kommen einfach und freuen sich, dass die Kirche offen ist. Ein paar Monate lang blieb die Kirche wegen Diebstählen geschlossen, was viele enttäuscht hat. Unsere kleine Dorfkirche ist eher ein Geheimtipp als eine touristische Attraktion. Und das darf auch so bleiben.

Schade wäre es nur, wenn die Kirche insgesamt zum Geheimtipp wird. In vielem wirkt sie ja eher verschlossen und unverständlich, manchmal auch gestrig und insgesamt zu sehr mit sich selbst beschäftigt. Hässliches steht zu oft im Vordergrund: der Skandal in St.Pölten, die leeren Kassen und ihre schmerzhaften Folgen, fruchtlose Auseinandersetzungen, Theologengezänk und so weiter. All das darf nicht beschönigt werden, denn Schönreden bringt nichts. "Makel und Runzeln" zeigen sich deutlich in und an der Kirche. Irgendwie ist sie häßlich und schön zugleich - so oder so ähnlich und ganz realistisch sieht das ja auch die Bibel.

Schön ist die Kirche in ihrer Musik. Für mich ist das ihre wichtigste Schönheit. Geistliche Musik aller Jahrhunderte erklingt eben am stimmigsten im sakralen Raum. Auch Kunst und Musik sind ja bewährte Wege der Spiritualität - und für viele ohnehin die letzten noch nicht abgerissenen Brücken zur Kirche. Dabei bringt Musik nicht nur den Raum zum Klingen, sondern auch das Innerste ihrer Hörer. Selbst in den von vielen Touristen überlaufenen Kirchen wird es wohltuend still, wenn Musik erklingt, am besten natürlich live. Das Repertoire ist unendlich reich und könnte noch viel interessanter präsentiert werden: Altes und Modernes, Bekanntes und Unbekanntes, neue Verknüpfungen von Wort und Ton oder von Musik und Tanz. Gerade die Musik hat etwas, was der Kirche auf weite Strecken fehlt. Sie fasziniert und wirkt damit missionarisch. "Sanft missionarisch" nennt Kardinal Lehmann die Musik in der Kirche - mancher sucht vielleicht ein Konzert und findet dabei seinen Gottesdienst.

Wenn es in unserer Dorfkirche ein Konzert gibt, kommen auch viele, die nicht zum Gottesdienst kommen. Und keiner muss sich dafür rechtfertigen. Im Freiburger Münster sind die sommerlichen Orgelkonzerte eine Institution seit Jahrzehnten. Woche für Woche finden sich ein paar Hundert Menschen ein, manchmal sind es über tausend. Und sie tun nichts, als Hören auf Musik. Offenbar brauchen wir das für unseren seelischen Haushalt. "Wir essen Brot, aber wir leben vom Glanz" schreibt die Dichterin Hilde Domin.

Nun aber gelten in der Kirche heute nicht nur theologische und ästhetische Grundsätze. Auch die Kirche muss sparen. Sie muss sich schon bald von vielen Angeboten trennen, über kurz oder lang sogar von Kirchenbauten. Über den Sparkurs wird - ebenso wie in der Gesellschaft - heftiger Streit ausbrechen. Bereits heute positionieren sich die Fraktionen. Hoffentlich hat auch die Schönheit eine Lobby. Sie gehört zum Grundprogramm, zum "Kerngeschäft" auf der "Prioritätenliste". Ob Berater wie die von McKinsey diese Dimension von Kirche erfassen können,
scheint mir fraglich. Die neue Orgel, die einen alten Jammerkasten ablöst, bringt langfristig auch mehr Geld in die caritativen Kassen. Ein gut klingender Kirchenchor oder ein Kinderchor, der sich es sich leisten kann, neue Noten zu kaufen, das sind lebendige und zukunftsträchtige Gruppen in der Kirche.

Dass unsere schöne alte Dorfkirche einmal zu einem Museum zweckentfremdet wird, kann ich mir gar nicht vorstellen. Eher schon, dass sie vereinsamt, wenn irgendwann kein Pfarrer mehr am Ort ist. "Wegen Priestermangel geschlossen" stünde dann an der Kirchentüre. Oder sollten sich nicht doch immer wieder "zwei oder drei" finden, die sich in seinem Namen versammeln lassen?

Die nächsten Jahre werden spannend, weil neue Weichen gestellt werden. Das bisherige "Angebot" an Gottesdiensten ist nicht mehr zu halten. Ob Alternativen gefunden werden oder ob manchen Gemeinden einfach die Luft ausgeht, das wird sich zeigen. Gerade in vielen Dörfern ist die Kirche die letzte noch verbliebene kulturelle Kraft. Und manches wird sich wohl auch an der Schönheit von Kirche entscheiden. Daran, ob es gelingt, den äußeren und den geistigen Raum attraktiv zu halten. Zum Beispiel am Sonntag. Dass Vertreter der Kirche politisch für den Schutz des Sonntags kämpfen, ist das Eine. Dass die Kirche ihre eigene Sonntagskultur stärkt, das Andere. Wie attraktiv der Sonntag in der Kirche ist, das hat jede Gemeinde ein stückweit selbst in der Hand.

Neu zu entdecken ist die Schönheit der Kirche in ihren Symbolen. Die olympischen Spiele zeigen gerade, wie wichtig Symbole sind. Nationalfarben und Siegerkranz, feierliche Eröffnung und Schlussfeier, die Hymne und das Siegertreppchen - fast wie Choral und Altar. Die Neuentdeckung der christlichen Symbolsprache steht weitgehend noch aus. Vielleicht ist es doch nicht gleichgültig, ob man in der Kirche sitzt oder steht, kniet oder geht. Licht und Farbe tun ein Übriges, Bewegung und Gewänder, Weihrauch und immer mit dabei die Musik.

Leider wird Schönheit immer mehr zu einer Frage ästhetischer Milieus. Auch das wird in der Musik am deutlichsten: Gregorianik oder klassische Orchestermesse, Volkstümliches oder Neues geistliches Lied. Oder doch lieber ein Mix aus allem? Die Frage, was denn konsensfähig ist und "Priorität" genießt, muss neu gestellt werden. Der Schatz der Kirchenlieder sollte unbedingt dazu gehören. Denn in ihnen erklingt die „Quersumme des Glaubens“; als die „Intimgeschichte des Christentums“ bezeichnet sie der Germanist Hermann Kurzke. Wenn die gemeinsamen Lieder verloren gehen, nicht mehr auswendig gekonnt und inwendig vertraut sind, fehlt eine gemeinsame Sprache, die Generationen, aber auch Milieus und sogar die Epochen miteinander verbindet. In der Mischung aus alt und neu kann das Feiern gelingen. Und selbst die Theologie - ihre Nüchternheit in Ehren - könnte bisweilen schön werden, und ebenso eine Predigt oder ein Gebet.

Die Kirchen-Euphorie einer Gertrud von Le Fort ist mir fremd. Aber ein Zipfelchen davon täte uns vielleicht wieder gut. "Deine Gebete sind kühner als alle Gebirge der Denker" schreibt sie in ihren "Hymnen an die Kirche" - und deutet damit zugleich an, dass Schönheit und Vernunft immer zusammengehören.

Vor einigen Jahren hatten wir einen kunstsinnigen Pfarrer. Er war Professor gewesen und hatte doch seine Leutseligkeit nie eingebüßt. Der etwas lang geratene Vortrag einer Violinsonate am Beginn einer Messe hätte manchen Pfarrer ungeduldig machen können. Er aber kommentierte die Musik mit den Worten: "Schon die Kirchenväter haben uns gelehrt, dass die Schönheit eine Schwester der Wahrheit ist - und auf beides kommt es uns an."

Wodurch wird die Kirche also schön? Sicherlich nicht durch Kosmetik, die anbiedernd auf fremde Marken schielt und imitiert, was andere besser können. Eine Rückbesinnung auf das Ur-Eigene ist nötig, auf das, was Menschen in Freude und in Leid von der Kirche erwarten. Und - ich bleibe dabei - dazu gehört die Schönheit und Stimmigkeit ihrer Räume, ihre Rituale und Klänge. Und das ist ihre eigene Schönheit, nicht geliehen von der "Welt". Das alte Gegenüber von "Kirche und Welt" könnte überhaupt ein ganz neues Thema werden. Die offene Tür signalisiert, dass die Kirche sich der Welt öffnet, und das ist gut. Die Schwelle, die man übertritt, lässt aber zugleich spüren, dass drinnen nicht draußen ist und draußen nicht drinnen. Diese Unterscheidung ist in der Volkskirche etwas verloren gegangen; aber diese Epoche der Kirche geht ja ohnehin gerade ihrem Ende entgegen, Eine Kirche, die sich ihrer Umgebung angleicht, verliert paradoxerweise gerade dadurch ihre Ausstrahlung. Wer braucht sie denn, wenn sie nur "anbietet", was die anderen auch im Repertoire haben, und oftmals professioneller beherrschen? Dass Schönheit und Attraktivität der Kirche nicht zuletzt auf einer gewissen Fremdheit beruhen, auch das wäre neu zu entdecken. Was schön ist, wirkt anziehend und bleibt in seiner Tiefe letztlich doch unerklärbar - geheimnisvoller jedenfalls als ein Mehrzweckraum, der einfach "Kirche" genannt wird. Wenn die Kirche immer und überalle für alle da sein will, läuft sie Gefahr, daß ihre einstige Schönheit in bloßer Gefälligkeit untergeht. Nicht nur Vielfalt ist wichtig, sondern auch der kreative Umgang mit ihr. Wohl den Gemeinden, denen es gelingt, Schwerpunkte in Zeiten des Umbruchs überzeugend neu zu setzen - und dabei die Schönheit nicht zu vergessen.

Ein letzter Blick geht zur alten Dorfkirche. Ihr klares Profil verändert sich nicht, wenn ihre Türen sich öffnen. Offenheit heißt eben nicht Beliebigkeit. Auch das lässt sich vom Kirchenraum lernen. Wer unsere dörfliche Marienkirche betritt, bleibt nicht im Unklaren, wo der Mittelpunkt ist. Wie von selbst geht der Blick nach vorn und richtet sich nach oben. Der Raum nimmt den Besucher mit auf den Weg: er sieht Helles und Dunkles, die Stationen des Kreuzwegs ebenso wie die des Marienlebens. Und er darf da verweilen, wo es ihm am wohlsten ist und er sich verstanden fühlt. Was gibt es Schöneres?

Meinrad Walter
Hauptberuflich bin ich im Amt für Kirchenmusik der Erzdiözese Freiburg tätig. Die freiberufliche „musico-theologische Werkstatt“ umfasst Publikationen, Vorträge und Workshops; außerdem die Tätigkeit als nebenberuflicher Kirchenmusiker in der kleinen Schwarzwald-Gemeinde Stegen-Eschbach.


Ausführlicher Lebenslauf
geb. 1959 in Neuried/Schutterzell (Baden)
1978 Abitur
1978-1984 Studium der kath. Theologie in Freiburg und München (Abschluss: Diplom) außerdem: Philosophie und Musikwissenschaft
1982 Kirchenmusikalische C-Prüfung
seit 1983 nebenberuflich Kirchenmusiker in Stegen-Eschbach: Chorleitung, Orgelspiel, Konzertreihe
1985-1988 Promotionsstipendiat des Cusanuswerks
seit 1985 zahlreiche Publikationen und Vorträge zu kirchenmusikalischen Themen
seit 1986 Radiosendungen beim Südwestrundfunk und anderen Sendern: Kommentare, Live-Moderation, Interviews und Essays
1987/88 Zivildienst in Freiburg
1989-1996 Wissenschaftlicher Assistent (Uni Freiburg), anschließend Lehraufträge an der Universität Zürich und der Musikhochschule Mannheim
1993 Promotion mit der Arbeit "Musik-Sprache des Glaubens. Zum geistlichen Vokalwerk Johann Sebastian Bachs" (Knecht Verlag, Frankfurt)
1996-1999 Lektor des Benziger Verlags Zürich
2000-2001 Geschäftsführung des Freiburger Bachchors
seit 2002 Kirchenmusikreferent im Amt für Kirchenmusik der Erzdiözese Freiburg
seit 2006 Mitglied im Allgemeinen Cäcilienverband und im Beirat der Zeitschrift "Musica Sacra"
seit 2007 Mitherausgeber der Zeitschrift "Musik und Kirche"
seit 2008 Lehrbeauftragter für Liturgik an der Hochschule für Musik Freiburg i. Br.
seit 2012 Honorarprofessor an der Musikhochschule Freiburg
seit 2013 Stellvertretender Leiter des Amts für Kirchenmusik Freiburg