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Kolleg St. Sebastian Stegen:
Wie P. Middendorf SCJ „Gerechter unter den Völkern“ wurde


Das Kolleg St. Sebastian der Herz-Jesu-Priester in Stegen nahe Freiburg ist erst nach dem Krieg entstanden. Doch als Vorgänger existierte dort seit Anfang der 30er Jahre eine Spätberufenenschule, die schon bald nach der Machtübernahme der Nationalsozialisten wieder aufgelöst werden musste. Während der letzten Kriegsjahre von 1942 bis 1945 lebten auf dem Klostergelände höchst unterschiedliche Menschengruppen: Angehörige dreier verschiedener Ordensgemeinschaften, Waisenkinder, Nazi-Anhänger und -Gegner sowie Flüchtlinge, darunter auch einzelne jüdischer Abstammung. Diese letzteren wurden von Pater Dr. Heinrich Middendorf, der von 1938 bis 1946 Rektor des Stegener Ordenshauses war, unter Lebensgefahr versteckt gehalten. Für seine Verdienste um die Rettung von Menschen jüdischer Abstammung wurde er 1994, 22 Jahre nach seinem Tod, vom Staat Israel mit dem Titel „Gerechter unter den Völkern“ geehrt. – Über die Geschichte des Klosters und insbesondere die turbulente Zeit der NS-Gewaltherrschaft hat P. Dr. Bernd Bothe SCJ zahlreiche Schriften veröffentlicht. Die nachstehenden Ausführungen sind weitgehend der Broschüre „Pater Heinrich Middendorf SCJ – Gerechter unter den Völkern“ sowie einem Aufsatz des heutigen Schulleiters , Oberstudiendirektor Eberhard Breckel, entnommen.



Schlosskapelle und Kloster in Stegen.

Die Ordensgemeinschaft der Herz-Jesu-Priester (SCJ) war 1878 von dem französischen Priester Leo Dehon gegründet worden. 1929 holte die Familie der Kagenecks als letzte Lehnsherren eines früher „Weiler“ genannten alten Maier-Anwesens Herz-Jesu-Priester nach Stegen, um das fast leerstehende Schloss und die Wirtschaftsgebäude des alten Gutshofes einer neuen Verwendung zuzuführen.. Zunächst diente das Schloss dem Freiburger Studienhaus der Herz-Jesu-Priester als Erholungsheim. Anfang der 30er Jahre wurde eine Spätberufenenschule eingerichtet, die den Namen „Missionshaus Stegen“ erhielt (so wurden damals schulische Einrichtungen missionierender Orden genannt).

Bereits 1936 wurde diese Schule von den NS-Machthabern wieder geschlossen. Bis zum Beginn des Zweiten Weltkriegs nutzten die Herz-Jesu-Priester das Schloss als Noviziat und Scholastikat für den Ordensnachwuchs. Gleich zu Beginn des Krieges gab es die ersten Einquartierungen von Soldaten. Sie wurden 1942 abgelöst durch Flüchtlinge und Bombengeschädigte aus dem Ruhrgebiet. Im September 1943 folgte der Schutzengelkindergarten aus Hagen/ Eilpe mit rund 80 Kindern und zehn Schwestern, die sie betreuten. Dieses Kinderheim blieb bis 1946 bestehen. Nach der Bombennacht vom 27. November 1944 fanden zahlreiche Obdachlose aus Freiburg in Stegen ihre erste Bleibe.


Vor dem Krieg gab es im Missionshaus Stegen eine Spätberufenenschule.
Hier sieht man die Hausgemeinschaft; in der Mitte P. Josef H
ülsbusch SCJ, der damalige Rektor.

In Lebensgefahr – schon wenn ein Ehepartner jüdisch war

Die turbulente Situation im Kloster Stegen nach dem Bombenangriff wird nachfolgend anhand einiger Einzelschicksale verdeutlicht. Augenzeugin und Betroffene ist Grete Borgmann, die Frau des Publizisten und Hauptschriftleiters beim Deutschen Caritasverband, Dr. Karl Borgmann. Die Familie war befreundet mit dem katholischen Publizisten und Redakteur der damaligen „Freiburger Tagespost“ Rupert Giessler und seiner Frau Irmgard geborene Freitag, Tochter jüdischer Eltern, die kurz vor ihrer Hochzeit 1928 zum katholischen Glauben übertrat. 1936 wurde ihnen Tochter Ursula geboren. Damit galt ihre Verbindung als privilegierte Mischehe, doch 1939 erhielt Rupert Giessler Berufsverbot – weil er eine jüdische Frau hatte! Nach einjähriger Arbeitslosigkeit fand er eine illegale Beschäftigung im Colmarer Alsatia-Verlag, nach außen als Sekretär von Verleger Joseph Rossé, der sich auch für viele weitere gefährdete Menschen einsetzte, in Wirklichkeit aber als Cheflektor. Im November 1944 wurde ihnen in Freiburg aus einer Bemerkung des Blockwarts klar, dass ihnen Verhaftung bzw. Deportation drohte. Rupert und Irmgard Giessler wollten dem zuvorkommen und reisten in das Elsass. Sie ließen ihre kleine Tochter Ursula vorübergehend bei Familie Borgmann. Diese hatte bereits mit den Herz-Jesu-Priestern in Stegen Verbindung aufgenommen und die Zusage erhalten, dort im Notfall aufgenommen zu werden (Karl Borgmann war mit Pater Middendorf befreundet).

Aus der Schilderung von Frau Borgmann wird deutlich, dass es ihr nur äußerst knapp gelang, Ursula Giessler auf dem Fahrrad nach Stegen in Sicherheit zu bringen. Aber dann ergab sich das nächste Problem: Familie Giessler hatte eine jüdische Freundin namens Lotte Paepcke, Tochter des Freiburger Kaufmanns und Stadtverordneten Max Mayer. Lotte hatte am Goethe-Gymnasium 1929 das Abitur gemacht und durfte damals sogar noch die Abiturrede halten. Ihr Jura-Studium schloss sie 1933 ab, erhielt aber als Jüdin keine Anstellung mehr. Sie heiratete den norddeutschen Protestanten Dr. Ernst August Paepcke noch vor Erlass der Nürnberger Rassegesetze von 1935, die Mischehen zwischen Deutschen und Juden verboten. Ihr Mann war Literaturhistoriker, arbeitete aber bis 1945 in der pharmazeutischen Industrie unter anderem in Bielefeld, Köln und Leipzig. Jeder Umzug war mit einer Meldpflicht verbunden, wobei seine Frau mit „Sara“ Lotte Paepcke unterschreiben musste. 1935 wurde Sohn Peter geboren (und evangelisch getauft). Damit galt ihre Ehe zunächst als privilegierte Mischehe, die vor einer Deportation schützte. Als von 1942 an, nach der Wannseekonferenz, die privilegierten Mischehen keinen Schutz mehr boten, beschloss Lotte Paepcke unterzutauchen. Wegen einer Herzmuskelentzündung erhielt sie einen Erlaubnisschein zu einer Bahnfahrt in ihre Geburtsstadt Freiburg. Wegen ihrer Krankheit wurde sie illegal und ohne Papiere mit Hilfe von Grete Borgmann und durch Vermittlung von Kamillianerpater Hubert Reinartz im Vinzentiuskrankenhaus untergebracht.


Dr. Karl Borgmann und Frau Grete mit dreien ihrer Kinder. V.l.n.r.: Reiner,

Eva, Albert (Magret wurde erst 1942 geboren).


Wie Lotte Paepcke in Stegen überlebte

Am 27. November 1944 wurde auch das Krankenhaus bei dem verheerenden Bombenangriff auf Freiburg weitgehend zerstört. Lotte Paepcke konnte durch ein Kellerfenster auf die Straße entkommen und fand in einem Luftschutzkeller am Colombipark eine Pritsche für die Nacht. Am nächsten Morgen wankte sie, durch ihre Krankheit und den Schrecken des Erlebten geschwächt, durch die Straßen der zerstörten Stadt. Sie war nahe daran, sich dem Blockleiter zu ergeben, der die obdachlos gewordenen Menschen registrierte. Das hätte für sie das Ende bedeutet. Dann aber kam die Rettung. In einem bei Herder erschienenen Buch mit dem Titel „Ich wurde vergessen. Bericht einer Jüdin, die das Dritte Reich überlebt hat“, schildert Frau Paepcke dies so: „Da kam eines Morgens ein Mann in geistlicher Kleidung in unser Zimmer und fragte mich, ob ich Lust hätte, in das unweit der Stadt gelegene Kloster zu übersiedeln. Es sei dort besser für mich. Und ob ich meinen Jungen auch mitnehmen wolle, auf ein Bett komme es nicht an.“ Der Mann war kein anderer als P. Middendorf, den Frau Borgmann auf das Schicksal ihrer in Freiburg obdachlos gewordenen jüdischen Freundin aufmerksam gemacht hatte. Lotte Paepcke akzeptierte das Angebot und wurde so, wie es in ihrem Buch weiter heißt, „in die Schar der Schützlinge des Klosters“ aufgenommen.

Um sie vor den Nationalsozialisten auf dem Gelände, wie etwa vor dem Lehrer Friedrich Abel oder den ausgebombten Nazi-Anhängern aus Freiburg zu tarnen, arbeitete Frau Paepcke in der Gärtnerei und gehörte damit scheinbar zum Personal. Ihr Sohn Peter wurde den Kindern des Schutzengel-Kinderheimes zugeordnet und diente den Patres als Ministrant bei der Messe, um ihn katholisch erscheinen zu lassen. Schließlich kam im April mit dem Einzug der französischen Besatzungstruppen die Rettung.


Dr. Ernst-August Paepcke und seine Frau Lotte geb. Mayer.

Peter Paepcke, Sohn der Eheleute, etwa zur Zeit, als er mit seiner Mutter in Stegen weilte.


Ein Halbjude namens Gerhard Zacharias

Zu den Geretteten gehörte auch ein „Halbjude“ namens Gerhard Zacharias. Man wusste nicht viel von ihm – es war bei den „Gästen“ des Klosters üblich, sich zur eigenen Sicherheit von den Mitbewohnern abzuschotten – , aber ihm wurde wie den anderen Schützlingen des Klosters ohne viel Fragen geholfen. Fast 50 Jahre nach dem Krieg wurde Zacharias nach einjährigen Nachforschungen im Rheinland ausfindig gemacht und in der Osterwoche 1994 besucht. Dabei schilderte er das schwere Schicksal seiner Familie, die mütterlicherseits jüdisch war. Seine Mutter Helene Heymann war die Tochter des Geheimen Justizrates Viktor Heymann. Durch Heirat mit dem Katholiken Ludwig Zacharias ging Helene Heymann eine Ehe ein, die nach der Geburt von drei Kindern als privilegierte Ehe galt. Die jüdische Ehefrau und Mutter durfte jedoch nicht in arischen Geschäften einkaufen, nicht in den Luftschutzkeller gehen und keine öffentlichen Verkehrsmittel benutzen. Im Krankheitsfalle mussten deutsche Ärzte sie nicht behandeln – alles menschenunwürdige Vorschriften, die man sich heute nicht mehr vorstellen kann. Nach der Wannseekonferenz 1942 war auch Helene Zacharias in Gefahr, deportiert zu werden, kam aber bei einem Bombenangriff ums Leben.

Eine Schwester der Mutter wurde von der Gestapo abgeholt, eine andere Schwester wählte in einem Krankenhaus in Hannover den Freitod, um der Deportation zu entgehen. Zwei Schwestern von Gerhard Zacharias wurden in der Nähe von Braunschweig von Bauern versteckt und überlebten dort. Er selbst machte 1942 in Braunschweig das Abitur und begann zunächst in Paderborn das einzige Studium, das ihm als Halbjuden noch erlaubt war, nämlich Theologie. Als ihm auch das noch verboten wurde, verließ er Paderborn – gerade noch rechtzeitig, bevor er von Polizisten abgeholt werden sollte.

Er tauchte unter, gelangte in den Schwarzwald und schließlich nach Stegen, wo ihm die Frau des Bürgermeisters ein Zimmer vermietete. Als auch in diesem kleinen Ort die Kontrollen immer intensiver wurden, fand er Zuflucht im Kloster. Dort schlief er in der Bibliothek und räumte nach dem Aufstehen jeweils alles so zurecht, dass man sie als Schlafstelle nicht mehr erkennen konnte. Denn auch das Kloster wurde von der Gestapo ständig überwacht. Wenn er gefragt wurde, warum er nicht an der Front sei, hustete er heftig und antwortete: „Ich habe offene Tuberkulose.“ Dann liefen die Frager schnell von dannen. Zacharias, der nach dem Krieg in Freiburg Philosophie studierte und promoviert wurde, arbeitete später als Psychotherapeut. Über seine Zeit in Stegen sagte er: „Es war wirklich der Zustand einer außerordentlichen Freiheit. Das ist mir so in Erinnerung geblieben. Das war wirklich ein Erlebnis, Pater Middendorf spielte dabei eine große Rolle, einfach atmosphärisch.“

Nach dem Krieg: Von der „Missionsschule Haus Stegen“ zum „Kolleg St. Sebastian“

Nach Kriegsende gab die Schließung einer großen ordenseigenen Schule in Holland die Initialzündung zur Wiederaufnahme des Schulbetriebes in Stegen. Man wollte Ausgleich und Ersatz schaffen für das Angebot, das in Holland ausfiel. Damals brauchte man noch die Genehmigung der französischen Militärregierung, damit im September 1945 der Unterricht begonnen werden konnte, und zwar zunächst nur mit den Klassen Sexta und Quinta. Die Aufbauarbeit leitete der damalige Rektor P. Dr. Heinrich Middendorf. 1950 führte die Missionsschule Haus Stegen – so hieß die Schule damals und gab damit im Namen die Zielsetzung des ordensinternen Nachwuchses deutlich zu erkennen – die Gymnasialklassen Sexta bis Untersekunda. Das war Voraussetzung dafür, dass die Schule 1952 nach Errichtung des Landes Baden-Württemberg die staatliche Anerkennung als Progymnasium erhielt. Die Raumnot war groß, spielte sich doch der ganze Schul- und Internatsbetrieb im Schloss ab, dessen Raumangebot seit Jahren nicht mehr ausreichte und durch Schulbaracken behelfsmäßig erweitert wurde. 1953/54 wurde in enger räumlicher Anbindung an das Schloss ein erster Schulneubau auf einem Grundstück errichtet, das die Familie Kageneck käuflich erworben hatte. Die Gemeinde Stegen und die Gemeinschaft der Herz-Jesu-Priester haben dieser Familie große Wohltaten zu verdanken. Der Gebäudekomplex wurde 1960/61 noch um die Pfarrkirche erweitert, erhielt also damals seine heutige Gestalt. Bis Mitte der 60er Jahre führte das altsprachliche Progymnasium seine Schüler nur bis zur Mittleren Reife. Die Voraussetzungen zur Vollanstalt wurden ab Januar 1966 geschaffen, als P. Rektor B. Nienhaus auf dem Platz des alten Ökonomiegebäudes einen Schulhausneubau errichtete. Anfang 1966 gab sich die Schule auch einen neuen Namen und nannte sich nach dem Schutzpatron der Schlosskapelle „Kolleg St. Sebastian“. Die Erlaubnis zur Führung eines Vollgymnasiums wurde zum 1. April 1966 erteilt.



Pater Dr. Heinrich Middendorf SCJ


Einige Lebensdaten von P. Middendorp

Zum Schluss sollen noch einige Lebensdaten von Pater Dr. Heinrich Middendorf in Erinnerung gerufen werden. Er wurde am 31. August 1898 in Aschendorf geboren. Von 1912 bis 1916 besuchte er die Humanistische Lehranstalt „Missionshaus Sittard“ (Niederlande) der Ordensgemeinschaft der Herz-Jesu-Priester und trat anschließend in die Ordensgemeinschaft als Postulant ein. Nach dem Noviziat in Fünfbrunnen/Luxemburg (1916/1917) studierte er Philosophie und Theologie im ordenseigenen Scholastikat sowie an den Universitäten Freiburg und Innsbruck. Am 4. Oktober 1921 legte er in Innsbruck die Ewigen Gelübde ab und wurde am 17. März 1923 in Limburg/Lahn zum Priester geweiht. Danach studierte er Orientalistik und Bibelwissenschaften in Freiburg, Münster und Berlin. Von 1927 bis 1931 wirkte er als Kaplan in Kappel im Tal (heute Ortsteil von Freiburg), in Häg/ Wiesental, in Au/Rhein und in Reute, danach war er im Ordensscholastikat in Bendorf tätig. 1934 wurde er in den Bibelwissenschaften zum Doktor der Theologie promoviert. 1936 wurde er Rektor des Ordensscholastikats Bendorf, 1938 Rektor des Ordenshauses in Stegen (bis 1946). Was er hier leistete, hat ihn für alle Zeit unvergessen gemacht. Von 1946 bis 1949 wirkte er als Rektor des Ordensscholastikats in Freiburg, danach als Generalrat in der Generalleitung des Ordens in Rom. 1956 ging er als Missionar nach Afrika in den Kongo und gehörte von 1964 bis 1972 zur Ordensprovinz Zaire. Am 10. August 1972 starb er im Marienhospital in Osnabrück. Mit Beschluss vom 11. September 1994 wurde er wegen seiner Verdienste um die Rettung von Menschen jüdischer Abstammung vom Staat Israel mit dem Titel „Gerechter der Völker“ geehrt.

Hans Lipp