zum Inhaltsverzeichnis    zum Speckle-Inhaltsverzeichnis      zur Lindenberg-Liste

 

Die Memoiren des letzten Abts von St. Peter
Ignaz Speckle
Ein Beitrag zur vaterländischen Geschichte.

 

XI.
Zeitgeschichtlicher Sittenspiegel.

Daß die unruhigen, kriegerischen Zeiten am Ende des vorigen und zu Anfang dieses Jahrhunderts, sowie die seichte Aufklärerei des Josephinismus für das Gedeihen des religiös-sittlichen Lebens nicht förderlich waren, läßt sich leicht errathen. In der That enthalten auch die uns vorliegenden Aufzeichnungen des Prälaten Ignatius von St.Peter eine nicht unbeträchtliche Anzahl von Vorkommnissen, welche die damaligen sittlichen Zustände des Breisgaues nicht im glänzendsten Lichte erscheinen lassen. Wir geben im Nachstehenden einige Belege für diese Behauptung.

1. An verschiedenen Stellen beklagt der Abt das durch die französischen Emigranten eingeschleppte Sittenverderbniß. So wurde im April 1798 eine neue, strenge Verordnung publicirt wegen der Emigranten aus Frankreich und andern republicanischen Provinzen, und deren Verwendung zur Erziehung und zur Seelsorge verboten. Der Prälat bemerkt hiezu: Aeußerst nothwendig wäre die genaue Beobachtung dieser Verordnung. In Freiburg wimmelt es von Emigranten geistlichen und weltlichen Standes beiderlei Geschlechtes. Der größte Theil von ihnen dient nicht zur Sittenverbesserung. Die Geistlichen sind Müßiggänger und meist leichtsinnige Windmacher, tragen sich gewöhnlich, selbst Religiosen, weltlich; die übrigen behaupten noch ihren Adelstolz, leben auf hohem Fuß und delicat, spielen ec. Die Frauenzimmer befördern die ärgerlichsten Moden. Die meisten tragen zum Sittenverderbniß und zur Verschlimmerung der Denkensart bei, so daß nicht zu bezweifeln, es stecken sehr viele Emissäre unter der Maske von Emigranten, welche am Ende unserm Vaterlande den Untergang bringen werden. Freilich werden, wenn das Gesetz in Ausübung kömmt, auch unschuldige darunter leiden müssen; doch werden sich in der Folge für diese wieder Mittel finden lassen.

2. Noch greller wird die eingeschleppte Zuchtlosigkeit an einer andern Stelle des Tagesbuchs geschildert: Unter den französischen Emigranten oder Emissären gibt es Dirnen, aber von Stande, welche, wie es scheint, durch die ärgerlichste Ausführung den Rest der guten Sitten noch gar zu vertilgen bestimmt sind. Beinahe nackend ziehen sie aus; eine darunter, Madame R., ging sogar auf den Abend im bloßen Hemde im Alleegarten spazieren, wie mich eine der ersten Damen von Freiburg versicherte, und die Polizei duldet alles dieses ! Von Altbreisach sagt man sich noch in der Stille, daß dort die Revolutionsgrundsätze ziemlich Wurzel fassen, auch schon ziemlich laut geäußert werden. Man erwartet dort vielleicht den ersten Ausbruch.

3. Nicht besser sah es in sittlicher Beziehung auf dem Lande, insbesondere in den Waldgegenden aus. Angelegentlich kam heute, so schreibt der Abt am 4. Februar 1798, das Sittenverderben besonders in puncto sexti zur Sprache. Es ist äußerst traurig, wie sehr dieses Laster in den Waldgegenden überhand nimmt. In unserer Herrschaft sind nach meinem aufgenommenen Verzeichniß 89 ledige Weibspersonen, welche Kinder erziehen, verschiedene darunter haben zwei und mehrere; auch bei Verheiratheten sind derlei Fälle (von unsittlichen Vergehen) eben nicht selten. Man kann annehmen, daß jährlich der dritte Theil aller Geborenen unehelich sind. Von jeher war dieses Laster auf dem Walde gemeiner als auf dem flachen Lande. Aber es griff doch augenscheinlich um sich, seitdem es gesetzliche Straflosigkeit hat. Es gibt keine Mittel dagegen bei der wirklichen Gesetzgebung, bei der schamlosen Erziehung, selbst bei der Bauart hiesiger Häuser. Es mangelt meines Erachtens nicht an Unterricht und Ermahnung; allein Alles ist vergebens.

4. Die öffentliche Sicherheit war natürlich in jenen Kriegsjahren, da eine Masse Gesindel den Armeen nachzog, sehr häufig gefährdet. Am 1. März 1798 beschäftigte sich die Conferenz in Freiburg sehr angelegentlich mit dieser Frage. Seit einiger Zeit waren mehrere Diebstähle, auch Angriffe auf öffentlichen Straßen zur Anzeige gekommen; es war sogar eine Ordonnanz zu Pferd auf der Straße bei Gottenheim gewaltthätig angegriffen worden. Das badische Oberamt Emmendingen machte Anzeige hievon an das Landespräsidium, dieses an den Confeß, wodurch eben diese Conferenz veranlaßt wurde. Es ward beschlossen: 1) eine allgemeine Streife am 20. Februar zu veranstalten, wozu das Militair seine Mitwirkung versprach. 2) Die verdächtigen Eingefangenen sollten, da kein Zuchthaus im Lande sei, entweder dem Militair übergeben, oder wenn sie, nicht tauglich seien, mit 15 Stockstreichen in ihr Heimwesen, wenn sie Inländer, oder an die Grenze, wenn sie Ausländer, geschafft werden. 3) Es sollten Verzeichnisse und Beschreibungen von allen bekannten Vagabunden von den Beamten aufgenommen, an das Landhaus abgegeben und in der Folge gedruckt werden. 4) Wer das zweitemal ertappt wird, soll mit vermehrten Stockstreichen und abgeschnittenen Haaren aus dem Lande gejagt werden. 5) An die Grenzen sollen, wenn das Militair einwilligt, kleine Patrouillen von Reiterei gestellt werden. 6) Diese Angelegenheit solle mit den Militairbehörden und den benachbarten markgräflichen und Fürstenbergischen Beamten verabredet werden. 7) Endlich sei die Verordnung wegen der Emigranten zu erneuern und genau darauf zu halten. - Am 14. December 1802 fand abermals eine Beamtenconferenz in diesem Betreffe statt, um zu berathen, wie die neulich erschienene Verordnung der Regierung: „Die Säuberung des Landes von den gar zu sehr überhand nehmenden Gaunern und Bettlern Betreffend“ durchzuführen sei. Man verordnete genaue und bestimmte Pässe, theilte das Land in 10 Streifdistricte ein und verordnete monatliche Streifzüge. Die Beamten brachten aber fürs erstemal nichts zu Stande. - In der Nacht vom 27. auf den 28. August 1814 wurde sogar im Münster zu Freiburg eine silberne Monstranz sammt der heiligen Hostie gestohlen.

5. Auch Verbrechen gegen das fünfte Gebot Gottes versetzten das Volk in Bestürzung und Aufregung. Am 25. Juli 1810 wurde zu Freiburg der Zirkelschmied Keim unversehens verhaftet. Es wurde, ich weiß nicht wie, entdeckt, daß er schon im April seinen Gesellen ermordet und unter dem Viehstalle begraben habe. Man stellte Nachforschungen an; der Körper wurde entdeckt und Abends um 9 Uhr begraben. Der Mörder war ein Trunkenbold und hatte fünf Kinder. Während der Revolution hatte er in Frankreich geheirathet und später sein Weib verlassen. Dieselbe suchte ihn in der Folge in Freiburg auf, nachdem er bereits wieder verheirathet war. Die erste Ehe wurde für ungültig angesehen und die Französin abgewiesen. Der Proceß wegen des von ihm verübten Mordes dauerte volle zwei Jahre und endigte mit der Hinrichtung des Verbrechers durch das Schwert. Der Prälat bemerkt hiebei: Ueberhandnehmende Sittenlosigkeit aller Art zeigt, daß die so gepriesene Humanität gegen Verbrecher oder Straflosigkeit nicht das Mittel sei Menschen zu bessern; man wird endlich durch die Erfahrung besser als durch die Theorie belehrt, daß abschreckende Beispiele des bestraften Lasters müssen aufgestellt werden.

6. In der Nacht vom 10. auf den 11. Mai 1814 Nachts um halb 12 Uhr entstand in der Stadt ein furchtbarer Lärm. Man hörte einige Schüsse. Jedermann wurde aufgeschreckt: es entstand ein Zusammenlauf in der großen Gasse und ein großes Geschrei. Die meisten Einwohner vermutheten den Ausbruch von Feuer. Bald aber verbreitete sich die Nachricht, es sei im Gasthaus zum Zähringer Hof ein österreichischer oder bayerischer Officier von den Russen ermordet worden. Nach einer Stunde verlor sich der Lärm und wir gingen wieder zu Bett. In der Frühe bestätigte es sich, daß ein bayerischer Officier wirklich mit vielen Wunden in gedachtem Gasthofe, wo sich der Anführer des russischen Freicorps einquartirt hatte, war ermordet und der österreichische Officier Petzeck verwundet worden. Der Zusammenlauf des Volkes dauerte den ganzen Vormittag vor dem Zähringer Hofe fort. Es wurden Untersuchungen angestellt. Das Volk, freilich meist Gesindel, Buben, Kinder, Mädchen, dabei aber doch auch Studenten, Soldaten, Bürger und angesehene Herren füllten den Platz vor dem Hause. Einigemal entstand ein lautes Geschrei. Die Ursache des Zusammenlaufs weiß eigentlich Niemand; bei den Meisten mochte es Neugierde sein; doch sagte man auch der Hr. Mumaloff wollte aus der Stadt abziehen, aber das Volk wolle es nicht zulassen. Auch die Umstände des Mordes kennt man noch nicht. Man gibt an, Hr. Mumaloff habe andern Officieren den Eingang in den Gasthof wenigstens Abends nach 9 Uhr versperren wollen, darauf sei der Unfrieden schon vorgestern entstanden. Gestern Abend hätten sich mehrere Russen dort versammelt, - man sagt auf Anstiften des Commandanten des Freicorps. Als der Zank anging, hätten die Russen die Thüre gesperrt und die deutschen Officiere meuchelmörderisch angegriffen. Hr. Petzeck entkam noch mit vielen Wunden, wie man sagt, durch das Fenster. Der bayerische Officier, schwer verwundet, wollte sich vermittelst der Stiege zum Commandanten im obern Stock retten und bat um Schonung. Derselbe soll aber die Stiege hinuntergeworfen, dann noch mit Füßen getreten worden sein. Unterdessen entstand Lärm; da das Haus geschlossen war, mußte man durch Läden und Fenster einbrechen. Noch in der Nacht wurde es bekannt, daß ein Officier ermordet worden. Die Bürger liefen zusammen, der österreichische Commandant kam dazu: endlich wurde der Todte weggeschleppt und es wurden einige von den Thätern arretirt. Der ermordete bayerische Officier soll Baron Kors heißen, aus München gebürtig, der einzige Sohn einer Wittwe, und nach mehreren Aussagen ein bescheidener, wackerer Mann gewesen sein. Der Tumult unter dem Volke dauerte den ganzen Vormittag, ohne daß man recht wußte, was man verlangte, und ohne daß von der Polizei oder dem Militair Anstalten getroffen wurden. Wahrscheinlich ließ der österreichische Commandant in der Stille einige Soldaten herbei rufen, wenigstens kamen bis Mittag einige vom Regiment Jordis an in der Stadt. Auch der General Mumaloff ließ insgeheim Kosaken vom Lande herein kommen und nun ward der Tumult erst desto größer. Die Kosacken sprengten um die Mittagszeit mit gesenkten Spießen in die Stadt unter das Volk, jedoch ohne Jemand zu verletzen. Allein jetzt stieg noch die Wuth und der Lärm. Man griff einige Russen an, schlug dieselben und warf mit Steinen unter sie. Endlich kam der preußische Commandant zu Pferd, ritt unter das Volk und sprach mit Würde und Bescheidenheit, ermahnte zur Ruhe und gab sein Wort, daß er Ordnung herstellen, Satissaction verschaffen und mit seinem Leben dafür haften wolle. Er sprach dann mit dem General, welcher bereits in größter Verlegenheit war. Die Kosacken mußten nun abziehen. Dann eilte der Commandant wieder zu Pferd unter die Menge, zog den Tschako ab und gab das Zeichen, daß er sprechen wolle. Alles versammelte sich um ihn her, es entstand eine allgemeine Stille. Hierauf versicherte der Commandant, daß das russische Freicorps die Stadt verlassen, und der Thäter nach Recht werde bestraft werden. Ein allgemeines Lebehoch tönte als Antwort entgegen. Der Commandant grüßte die Menge und jeden Einzelnen, und so trat wieder ziemliche Ruhe ein. Unterdessen formirten die wenigen angekommenen Oesterreicher vom Regiment Jordis einige Patrouillen. Der österreichische Befehlshaber ließ Gewehre unter die Freiburger Freiwilligen austheilen und auch die Patrouillen bezogen die Wache beim Rathhause. Abends zogen die Russen weg - und Alles war ruhig. - Ueber das Entstehen des Streites erzählt man jetzt auch andere Umstände. Der Baron Kors, bayerischer Officier, soll seit ein paar Tagen mit den Russen Wortwechsel gehabt haben. Gestern Abends sei er dreimal in den Gasthof gekommen und habe endlich den russischen Officier ausgefordert. Dieser habe zwei Bouteillen ergriffen, dieselben zusammengeschlagen und dem Bayer vor die Füße geworfen, worauf Hr. Kors vom Leder gezogen und den Russen verwundet habe. Darnach fielen Kosacken über Kors her, welcher sich retten wollte, aber die Stiege hinunter geworfen worden sei. - In der folgenden Nacht vom 11. auf den 12. Mai entstand wieder Lärm. Morgens um 2 Uhr. In der Lesegesellschaft war Feuer aufgekommen, das aber bald wieder gelöscht wurde. Seit wenigen Tagen hörte man von mehreren Feuersbrünsten. In Kenzingen sind vor einigen Tagen gegen 100 Häuser abgebrannt. Vorgestern brannte es in Waldkirch und im Suggenthal, wobei einige Bauernhöfe eingeäschert wurden. Den Urspruug dieser Brünste weiß man zwar nicht, doch in Kenziugen glaubt man, daß das Feuer durch Soldaten angelegt worden sei.

7. Anfangs December 1814 ereignete sich noch ein trauriger Fall in Freiburg, der gleichfalls ein Menschenleben zum Opfer forderte. Badische Soldaten geriethen mit österreichischen Bäckerknechten im Wirthshaus in Wortwechsel; jene riefen sogleich die Wache herbei, welche aber von den vier Bäckergesellen wieder fortgetrieben wurde. Diese begaben sich in ihr Quartier.Jetzt kam der wachthabende Officier mit Verstärkung, um dieselben zu arretiren; da sich diese nicht ergeben wollten, so wurde Gewalt gebraucht; ein Bäckerknecht wurde schwer verwundet, und endlich nachdem er schon der Wache gefolgt war, wie man sagt, bei der Hauptwache mit dem Bajonnet erstochen. Die Sache wird nun untersucht. Der erstochene Bäcker ward am 10. December Nachmittags 3 Uhr feierlich begraben. Eine Trauermusik, von den Bürgermusicanten aufgeführt, begleitete die Leiche. Einige angesehene Herren, eine zahlreiche Bürgerschaft, auch viele Frauenspersonen erwiesen dem Verstorbenen die letzte Ehre. An den folgenden Tagen wurden die Exequien im Münster bei einem ungewöhnlich großen Zulauf des Volkes gehalten. - Um dieselbe Zeit wurden auch mehrere Kirchendiebe gefänglich eingezogen, welche in der Wiehre das Ciborium gestohlen hatten und auch in St.Georgen einbrechen wollten. Man vermuthet, daß die nämlichen im Münster die Monstranz entwendet haben. Mit Entsetzen erwähnt der Prälat die auffallend sich mehrenden Selbstmorde in Freiburg oder von Freiburgern. Ein württembergischer Officier, der sich zu Freiburg wollte curiren lassen, und schon zwei Amputationen ausgehalten hatte, erschoß sich. Ein Practicant, Sohn des Syudicus L., ertränkte sich. Ein paar Kaufmannsdiener tödteten sich ebenfalls auf andere Art.

8. Als eine Curiosität zeichnet der Abt im August 1803 die Thatsache auf, daß von der herzoglich (modenesischen) Landesadministration wegen des Weinumlagezolles dem Confeß ein Bescheid communicirt wurde, worin nude, crude et literaliter der Grundsatz ausgestellt war: „Der Zweck rechtfertiget die Mittel.“ - Es sei zu vermuthen, glaubt der Prälat, daß Hr. v. Greiffeneck abwesend sei, sonst würde gewiß dieser verworfene Grundsatz in einem öffentlichen Rescript nicht vorgekommen sein. Doch hat es damals wie heute Leute genug gegeben, welche nach dieser Maxime handelten, und zwar gerade auf jener Seite, die so gerne den Jesuiten diese Doctrin aufbürden möchten. So erzählt das Tagebuch unter dem 24. Hornung 1798 folgende characteristische Züge: Die Schweiz rüstet sich und zieht eine Armee zusammen. Man sucht auch über Religionsantipathien zu siegen. Die Berner Opferten die Kerze wieder nach Solothurn in die Kirche der hh. Ursus und Victor, und bezahlten für langherige Unterlassung dieses Opfers hundert Louisd'or. Die von Solothurn wollen sogar eine Erscheinung der beiden genannten Heiligen gesehen haben; die Berner verbreiten diese Kunde und wissen selbst von der Erscheinung eines großen Heeres zu erzählen. Die akatholischen Kinder vom Berner Biet werden auf Wallfahrten nach Solothurn geschickt. Trotz dieser himmlischen Wunderzeichen und frommen Uebungen der protestantischen Berner rissen sich die St.Gallischen Unterthanen von der Botmäßigkeit ihres Fürstabtes los und regieren nun sich selbst.